Behinderungen sind für die Betroffenen und ihre Familien schwere Schicksalsschläge. Während in den wohlhabenden Ländern der ersten Welt häufig funktionierende Sozialsysteme, ein effektives Gesundheitssystem, ein etabliertes Unterstützungssystem, Integrationsmaßnahmen den Betroffenen offen stehen, fehlt es hieran in den weniger entwickelten Ländern oft. Die WHO kommt in ihrer Studie zur weltweiten Situation der Behinderten unter Anwendung einer weiten Definition von „Behinderung“ (https://www.who.int/publications/i/item/9789240063600) zu dem Ergebnis, etwa 1,3 Mrd. Menschen, d.h. ca. 16% der Weltbevölkerung oder jeder 6., weisen eine Art von Behinderung auf; davon leben rund 80% in Entwicklungsländern. Andere Untersuchungen mit einer enger gefassten Definition der Behinderung nennen Bevölkerungsanteile von 3-7%. Behinderte erfahren oft vielfältige Nachteile, werden ausgegrenzt, sind stigmatisiert. Diese Exklusion von z.B. von Bildung, Beruf, medizinischer Versorgung, genereller politischer und gesellschaftlicher Teilhabe ist in den weniger entwickelten Ländern häufig sehr stark ausgeprägt. Das 2008 in Kraft getretene und von 185 Ländern ratifizierte Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention, UN-BRK; UNCRPD) verpflichtet die Länder gesetzliche Grundlagen zu schaffen und Maßnahmen zu ergreifen, um   Menschen mit Behinderungen bestehende Menschenrechte zu gewährleisten. Gesetze sind idR relativ schnell verfasst, diese umzusetzen oft ein extrem langwieriger Prozess; Entwicklungsländer haben darüber hinaus häufig auch nicht die Ressourcen, sich diesem wichtigen Thema angemessen und nachhaltig zu widmen.

Schülerinnen der Siraha School for Deaf

Nepal hat die UNCRPD 2010 ratifiziert und 2015 in der neuen Verfassung und einer Mehrzahl von speziellen Gesetzen umgesetzt.

Der nepalesische Bevölkerungsanteil mit Behinderung wird auf der Grundlage des Census 2011 mit 1,94% angegeben, der National Living Standards Survey (https://microdata.worldbank.org/index.php/catalog/1000/get-microdata) nennt 3,6% und eine 2014/15 durchgeführte repräsentative Haushaltsuntersuchung kommt unter Verwendung der differenzierten Fragesätze der Washington Group of Disability Statistics (https://www.washingtongroup-disability.com/question-sets) sogar auf eine Quote von 14,5%. Jede genannte Zahl gibt ausreichend Grund zu handeln. Wie vielfältig, weitgreifend und die Teilhabe einschränkend sich Behinderungen in Nepal auswirken, verdeutlicht die Überblicksstudie Disability Inclusive Development Nepal Situational Analysis vom Juni 2020 (https://opendocs.ids.ac.uk/opendocs/bitstream/handle/20.500.12413/15510/DID%20Nepal%20SITAN_June%202020.pdf?sequence=1). Zahlen sind das eine, die Lebenswirklichkeit in Nepal ist noch eindrücklicher. Hier ist Behinderung eines Familienmitglieds von großer gesellschaftlicher und sozialer Bedeutung; Handicaps werden in Nepal oft auch als Strafe der Götter angesehen. Den Familien haftet ein schlechtes Karma an, sie werden oft aus der Gemeinschaft ausgegrenzt, Mütter werden bei behinderten Kindern – und die Behinderung kann vielfältiger Art sein – von den Vätern verlassen. Behinderung ist ein stigmatisierendes Thema, sozial und wirtschaftlich eine enorme Herausforderung für Familie und ganz besonders für den/die Behinderte/n.

© Openstreetmap: Projektort Siraha, Provinz Madesh, Nepal

Teilhabe am sozialen, wirtschaftlichen und politischen Leben setzt die Fähigkeit zur Kommunikation voraus. Schulbesuche für Gehörlose in „normalen“ staatlichen Schulen sind, ohne ihrer Behinderung durch besonders ausgebildete Begleitpersonen Rechnung zu tragen nicht zielführend. Derzeit bestehen 22 spezielle Gehörlosenschulen in Nepal, ein großer Teil in und um Kathmandu gelegen, im Wesentlichen staatlich betrieben. In wenigen Fällen wurden, auf Initiative von und durch Unterstützung durch ausländische NGOs einzelne Klassen für Gehörlose eingerichtet (s. z.B. https://www.waisenkind.de/_hp2/index.php?nr=B4.3). Vereinzelt basieren derartige Schulen auf Privatinitiative, wie die Gehörlosenschule in Siraha (School for Deaf), die durch die Siraha Association of the Deaf (SAD) 1997 auf- und in kleinen Schritten ausgebaut wurde, so dass künftig sogar ein Abschluss nach der 12. Klasse möglich ist. Seit Jahren unterstützen die deutschen NGOs Eine-Welt-Gruppe Wardenburg eV (www.wardenburg.de/wardenburg/eine-welt-laden) und Nepali Samaj eV (www.nepalisamaj.org) deren Aktivitäten; die Kooperation mit der Johannes Vatter Gehörlosenschule in Friedberg (Hessen) trägt zum Wissenstransfer und Austausch bei. Es ist die einzige Schule für Gehörlose der Provinz 2 (Madesh); hier leben mit mehr als 5,4 Mio. Menschen über 20% der Bevölkerung Nepals. Das Einzugsgebiet ist enorm, das immer wieder erweiterte Platzangebot an der Schule reicht nicht aus, um auch nur annähernd den Bedarf und die Nachfrage zu decken. Die Siraha School for Deaf ermöglicht den Jugendlichen eine normale schulische Ausbildung durch in Gebärdensprache besonders ausgebildete Lehrkräfte; gleichzeitig erlernen sie die Gebärdensprache. Da nur ein kleiner Schülerteil aus der eigenen Gemeinde kommt, wurden Wohnheime integriert. Das durch die Stiftung mitfinanzierte Gebäude ermöglicht nicht nur durch die neu geschaffenen Unterrichts- und Schulnebenräume eine nennenswerte Erhöhung der Schülerzahl (derzeit 109), sondern auch mehr Wohnheimplätze für Jungen und Mädchen (derzeit von 107 Schülerinnen und Schülern genutzt).

Die letzte Erweiterungsbaumaßnahme wurde mit der zuständigen Provinzregierung abgestimmt, die deren Finanzierung in zwei Haushaltsjahren zusicherte. Der Bau wurde 2019/20, sich auf die Finanzierungszusage verlassend, begonnen, man musste aber die Baumaßnahme stilllegen, nachdem wegen anstehender Wahlen und sich abzeichnender neuer Mehrheitsverhältnissen die zweite Tranche zur Fertigstellung widerrufen wurde.

Der steckengebliebene Rohbau
nunmehr fertiggestellt und eingerichtet.

 

Maßgeblich durch unsere Stiftungsmittel, Beiträgen von Nepali Samaj eV und der Eine-Welt-Gruppe  Wardenburg eV, die gemeinsam unsere Unterstützung angefragt hatten, und weiterer Unterstützer konnte das Gebäude fertiggestellt, der bedarfsgerechte Innenausbau erfolgen, die Räume funktionsgerecht eingerichtet werden. Koordiniert wurden die Maßnahmen durch den lokalen Partner der Antragsteller, der Siraha Association of the Deaf (SAD).

Am 18.10.2023 wurde das Gebäude bei einer großen Zeremonie in Anwesenheit des Erziehungsministers der Provinz Madesh Pradesh eingeweiht.

Eine steckengebliebene Erweiterungsinvestition konnte erfolgreich abgeschlossen, das schulische Angebot für Gehörlose vergrößert, die Voraussetzung für höhere Schulabschlüsse geschaffen werden. Mehr Schülerinnen und Schülern wird gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe ermöglicht, eröffnen sich Ausbildungs-, Berufs- und Einkommenschancen, reduzieren sich die vielfältigen familiären Abhängigkeiten, können der Stigmatisierung durch erlernte Kommunikation begegnen, ein selbstbestimmtes Leben anstreben.

© der Fotos : Nepali Samaj eV/Eine-Welt-Gruppe Wardenberg eV/SAD